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Das Benzinkraut

foto: Hans Wetzelsdorfer

Meine Großmutter war keine Kräuterhexe, wie ich sie mir in Träumen gewünscht hatte; oder, aus erwachsener Distanz: wie meinem mit Märchen hochgepäppeltem kindlichem Gemüt diktiert worden war. Nein, sie hatte als einfache Eisenbahnerwitwe, die sie war, auch bloß die täglichen Verbindungen zu ihrem Fleischhacker, der ihr allerhöchstens Majoran als Verdauungsstütze seiner Erzeugnisse empfehlen konnte, & zu ihren Freundinnen, der Gärtnerin einerseits, die das von ihr verteufelte Unkraut zugunsten ihrer veredelt hochgezogenen Rosenstöcke und Rosenhecken nicht ohne betonte Schadenfreude vernichtete, zur in ausschweifenden Familiengeschichten unvermeidlichen Gräfin andrerseits, für die dieses Unkraut bloß einem Adjunkt in ihrer imperativen Konversation mit ihrem Gärtnergatten bildete & nicht zuletzt auch zu ihren Schwestern vom Österreichischen Roten Kreuz, die auf die chemischen Keulen aus ihrem Pharmaschatzkisterl vertrauten, welche auch schon die Jahre zuvor auf den Frühlingsfesten im Schloßpark, den die Gräfin mit Androhung auf allfälligen Widerruf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte, Adrenalinbomben in Form von Buttercremetorten abgegeben hatten. Als Kind hatte ich meine Großmutter noch einen Bombentrichter aus dem zweiten Weltkrieg zwischen Gemüse und Blumen gebückt mit dem Heinl  gegen aufkeimendes UNkraut in der Hand, gesehen: dabei hatte sie mir auch einmal die mit schweren Scheren bewehrte Maulwurfsgrille gezeigt, die ihr das Wurzelgemüse anfraß und die sich nach dieser Vorstellung durch meine Großmutter an meinem Erinnerungsspeicher festbiss, dort auf die Große eines real existierenden Maulwurfs anwuchs und sich schließlich auf die Größe eines Luftballons blähte, der dann hatschi-bratschi als Schreckgespenst durch meine Träume schwebte: der zu tötende Schädling  hatte Zugang zu meinem kindlich unbeschadetem Gemüt gefunden, wie zuvor auch schon der Ohrwurm als Ohrnkräula mit spitzen Zangen sich dort ein gezwickt oder der Maikäfer mit seinen Federantennen sich ein gefächelt und damit die Artenvielfalt meiner Fantasiefauna als weitere interessante Mutation bereichert hatte. Diese fantastische Traumwelt erlosch jedoch an jenem Nachmittag, an dem meine Spielkameraden einen zuvor auf offenem Getreidefeld gefangenen Hamster bei lebendigem Leibe über zuvor entfachtem Lagerfeuer ansengten und den elend piepsenden Leib langsam ankohlen ließen.  Der beißende Geruch seines angesengten Felles und diese hohen Verendungstöne vertrieben nachhaltig sämtliche geheimnisvolle Insekten in das böse Reich der Märchenecke meines Erinnerungsspeichers und schufen Platz für eine anscheinend tagtäglich expandierende Population böser Menschen.

Wenn ich später als Jugendlicher bei meiner Großmutter, sie war in der Zwischenzeit umgezogen, auf Besuch war, bekam ich dann schon das maschinell vorgewürfelte gefrorene und auf ihrem Herd bloß aufgetaute & zerkochte Supermarktkartongemüse serviert, das mich sehnsüchtig an ihr Bombentrichtergemüse zurücksehnen ließ: die bloße Einfalt von Schnittlauch- oder Petersilienstreu auf einer klaren fett äugigen Knochensuppe hätte mehr Geschmackstöne auf meiner Zunge und meinem Gaumen hervorgerufen als noch so bunte Würfelvielfalt es je vermögen hätte. Meiner Großmutter einzig bestehen gebliebener Bezug zur Pflanze schien mir damals ihr streng prüfender Blick auf den immer kurzgeschorenen und entunkrauteten  Rasen unter dem Balkon ihrer Wohnung; auf diesem Balkon durfte ich zwar mein Tabakkraut verpaffen, die Reststummel jedoch nicht hinunterwerfen auf den gestriegelten Rasen, in dem eine Baumschultanne prangte und schon mehr als einem Jahrzehnt in pannonischer Flora Wachtumsberechtigung zu erheischen suchte. Sie wußte offensichtlich nicht nur um die Schädlichkeit des Tabakkonsums – meinen Großvater konnte sie mir gar nicht vorstellen, der war schon vor meiner Geburt an Lungenkrebs gestorben, sondern auch über die schiere Unverottbarkeit der neuen Filterenden der Zigaretten im Rasen bescheid. Und dennoch empfand ich damals ihr Verhalten als reine Schikane an unserer Jugend, da sie meines Erachtens ja keine Kompetenz für die Pflege dieses Vorgärtchens überantwortet bekommen hatte. Später wurde mir klar, dass sie damit bloß eine Konfrontation mit dem peniblen Hausmeister vermeiden wollte.

Von diesem Balkon aus fiel mein Blick beim Rauchen auf Reihen von nagelneuen, bei Sonnenschein chrom- & lackblitzenden Autos, die dort auf Kies zum Kaufe bereit standen und mir selbst nach dem Erwerb eines Führerscheins unerreichbar schienen wie die englischen Kronjuwelen in ihrem Glanz; nebenbei führte auch eine Straße, die den ganzen Tag über von einer schleichenden Kraftfahrzeugschlange befahren wurde: selbst im befreiten Gespräch auf dem Balkon wies meine Großmutter immer wieder auf diese schleichende Kraftfahrzeugschlange & nicht auf die am Ufer der Leitha & dem Park dahinter kräftig im Schuss stehenden Platanen- & Kastanienbäume, hinter den Automobilen. Mich wunderte auch bei jedem neuerlichen Besuch, dass diese Bäume überhaupt noch dastanden, wo ich sie doch auch aus dem Bewusstsein meiner Großmutter verschwinden gesehen hatte. Doch offenbar endete ihr Bewusstseinseinfluss mit den Abschlusssteinen des Vorgärtchens, & dies bewahrte mir das Erinnerungsbild dieser kräftigen Platanen & Kastanien.

Zwischen dem Autopark & dem Platanen- & Kastanienpark zog der Fluss Leitha hindurch & die Straße mit der sich ewigschlängelnden Kraftfahrzeugsschlange schlug eine Brücke darüber. Wie der Oberösterreicher Thomas Bernhard einmal Bruck an der Leitha als die überhaupt grässlichste Stadt des Burgenlandes bezeichnet hatte & dabei auf die städtische Existenz in Niederösterreich  & somit gleich ganz auf die Existenz eines Bundeslandes zwischen Oberösterreich & Burgenland vergessen hat, so befand ich mich augenblicklich mit meiner Großmutter auf diesem Balkon tatsächlich im Burgenland, in Bruckneudorf, dem Auswurf einer Stadt, die sich darin bequemerweise eine der Stadt vorliegende Quarantäne, sozusagen ein Konzentrationslager für alles Fremde, Außenstehende und auch Unbequeme geschaffen hatte: jenseits, in Cisleithanien, in Bruckneudorf eben, befand sich das militärische Lager, das in beiden Kriegen den Bombenregen von der eigentlichen Stadt selbst abgezogen hatte; dort wurde die Phönix-Konservenfabrik errichtet, die Arbeiter aus der Fremde mitbrachte; dort durfte an den Leithaufern das exotisch verquere Zirkusvölkchen seine Zelte aufschlagen & Tierkäfige aufstellen; dort wurde die Sonderschule eingerichtet für behinderte & schwer erziehbare Kinder; dort hauste der urtümliche bärtige Schneider mit dem unaussprechlichen Namen, den ich nie zu Gesicht bekam & der uns Kindern herbei gewünscht wurde, wenn wir in den Augen der Erwachsenen gefehlt hatten; dorthin wurde von den Sozialisten die Monarchie samt kaiserlicher Büste hinausgekehrt in den Beserlpark wie auch die Kriegserinnerungen Nummero Eins & Zwo in phallischer Gestalt eines Kriegerdenkmals manifestiert; dort wurde das öffentliche Bad in prüder Geste mit Holzlatten rundum zugenagelt, um ja keine Gelegenheit zu geben, der Halbnackten darin ansichtig zu werden – um dann diese doch selbst gedeckt verschämt durch die Holzlattenzwischenräume beobachten zu können; - & nicht zuletzt befindet sich dort auch heute noch der immer noch Fremdkörper einbringende Bahnhof in neuzeitiger Bunkermentalität betonmantelumkleidet, von dem aus am neunzehnten September Neunzehnhundertfünf&fünfzig der letzte russische Besatzungssoldat sich aus neu restitutioniertem österreichischem Staatsgebiet verabschiedete. Selber am neunzehnten September geboren fühlte ich mich da so gar nicht unpassend & dachte mir: Die Stadtgemeinde Bruck in Transleithanien hat einfach die römischen Verhältnisse umgekehrt & die gefährliche Zone zurück hinein nach Cisleithanien in Pannonia interior verschoben.

Auch vom Wohnzimmerfenster meiner Großmutter bot sich derselbe Blick von ihrem Balkon nebenan: bloß hatte sie davor einen kleinen Altar errichtet, dessen Schrein ein Schwarz-Weiß-Fernsehgerät bildete, sozusagen ein imaginatives Fenster vor dem realen Mauerdurchbruch, der tagtäglich denselben Blick auf dieselbe schleichende Autokolonne als Bild fasste, ein Fenster, in dem im Gegensatz dazu selbst bei gleichbleibendem Blick die Bilder wechselten & sie später dann auch in Farbe mit Fernbedienung zusätzlich die Macht erwarb, diese schon von sich aus wechselnden Bilder nach eigenem Gutdünken nochmals auf Wechselkurs zu schicken. Als ihr einmal durch eine tote Batterie der Fernbedienung diese Macht genommen wurde & sie darüber zu jammern begann, als hätte sie ihr Heim verloren, wurde mir offenbar, wie die Machtverhältnisse sich schon umgekehrt hatten & dieses kleine batteriebetriebene Kästchen zu ihrem Herzschrittmacher geworden war. Andrerseits, dachte ich, war für meine Großmutter durch die beiden mitgelittenen Kriege das Jahrhundert schon längst geborsten, & jetzt sah sie diese Trümmer durch das eine tatsächliche Fenster mit der Autokolonne noch zusätzlich zerspringen in Sekunden & durch das Fernsehfenster davor gar in Hundertstel- & Tausendstelsekunden zersplittern. – Litt sie also gar an Entzugserscheinungen?, fragte ich mich naiv, war ihr Blick süchtig geworden nach sich allmählich steigernder Auflösung von Bildern? War es ihr wirklich schon unmöglich geworden, einen kontemplativen Blick auf die Platanen- oder Kastaniengruppen von ihrem Balkon zu werfen? – Aber abstruse Fragen wie diese waren zu weit gegriffen. Es war einzig H.C., den sie wochentags vermisste & der ihr an Samstagabenden die Trümmersicht zu einem Ganzen wieder zusammenkitten konnte; & nachdem eine neue Batterie in die Fernbedienung eingelegt war, verstand es dieser Artmann auch, meiner Sicht verdunkelte Stellen & Winkel in meiner Großmutters Nachkriegslandschaft zu erhellen. Die Erinnerungsschübe, die er durch seine Imaginationen in meiner Großmutter hervorrief, ließen sie wieder alte Lieder anstimmen & Überlieferungen weitergeben wie: „des Glück is a Vogerl…“ An Wochentagen suchte sie dann winters aus dem Fenster blickend & sommers vom Balkon aus in den wechselnden Windschutzscheiben der vorüberziehenden Automobilkolonne nach dem originalen Heinz Conrads. Als dieser dann honoris causae als Professor bedacht verstarb, starb mit Prof.hc.H.C. auch ein Teil von ihr selbst: die Fenster- & Balkonsuche war sinnlos geworden & samstagabends trübte ihre Fernsicht der Fernsehschneefall, weil ihr Heinzi den Schirm abgespannt hatte.

Wohl am meisten konnte ich meiner Großmutters Unmut erregen, wenn ich von einer bevorstehenden Fernreise zu sprechen begann. Ich erklärte mir selbst diese barsche Verhalten dadurch, dass sie durch ihren Mann, meinen Großvater, den ich nie kennengelernt hatte & der als Eisenbahner & Lokführer ebensolche Fernreisen dienstlich antreten musste, ebendiese mit Verzicht, Unerreichbarkeit & möglicherweise sogar Untreue in Verbindung zu bringen gelernt & das gewohnheitsmäßig das damit verbundene Bedürfnis zur Klage dann auf mich, ihren leibhaftig greifbaren Enkel, umgemünzt hatte.

Zuletzt hatte sich in ihren Beinen schon dermaßen viel Wasser angesammelt, dass ihr der Gang rüber in die Stadt nach Niederösterreich zu einer Tortur & wahren Weltreise machten; auch in ein Auto zu steigen, war für sie schon eine Prozedur, der sie sich höchstens für ein paar Kilometer unterzog; & dabei sprach sie leidenschaftlich gern von den Gefahren einer Ortsveränderung. & welch ein Unglück schien sich da aufzutun, als ich von einer geplanten Flugreise zu sprechen begann!

Im Airport Heathrow, beim Warten auf einen Fluganschluss nach New York, war mir meine Großmutter in den Sinn gekommen. Inzwischen war sie „ihrem“ Heinzi schon nachgefolgt. Der Anblick eines von der Startpiste abhebenden Flugzeugs hatte ihr Andenken in mir wachgerufen. Ganz eigenartig, wie Sinnbilder des Lebens miteinander verknüpft sind ohne in der realen Gegenwart logisch nachvollziehbaren Zusammenhang: Ich sah von der Wartehalle in Heathrow aus, wie der Schub durch entzündetes Kerosin ein solches Metallungetüm namens Flugzeug langsam von der Piste abheben, an Höhe gewinnen & in den Himmel hineinstechen ließ. Mit fortfliegender Entfernung bildete sich mir der Eindruck eines Flugsauriers, wie der Archäopterix, den mir ein saurustroper Schulfreund schon vor Jahrzehnten vorgestellt hatte, entglitt das Flugzeug meinem Blick & zündete den gedanklichen Kurzschluss: dieser Treibstoff Kerosin, raffiniert aus dem Blut dieser Saurier, das wir aus tiefliegenden Schichten auf die Erdoberfläche pumpen & damit Flugkörper in den Himmel schicken. & in dem plötzlich auf meiner Retina sich entwickelten Bildes einer Saurierbegleitfauna schossen Schachtelhalmwälder empor, deren Rudimente mir meine Großmutter im Bombentrichtergarten als Benzinkraut vorgestellt hatte. Dieser zierlich zart zerbrechliche von der übrigen Vegetation sich einzigartig abhebende Ackerschachtelhalm hatte damals wie die Maulwurfsgrille meine kindliche Fantasie besonders angesprochen. - & daraus sollten die Antriebstoffe für all die Fahr- & Flugzeuge hier um mich gewonnen sein? – Schien mir schon unglaubwürdig als Kind.

Auch als Heranwachsenden konnte man mich nicht davon überzeugen. & auch in der sogenannten Schulzeit fiel es mir schwer, beim Anblick einer solchen Pflanze, so zart & zerbrechlich zwischen den schweren Ackerschollen, einen ganzen Schachtelhalmwald mir vorzustellen, den es irgendwann mal zu Urzeiten gegeben haben soll, von Trias & Jura sprach der Biologe vor versammelter Klasse & von Steinkohlenflora & Mineralölbasis. Ich glaubte ihm kein Wort – Ein paar Meter hohe Schachtelhalmbäume? – In ihrem Schatten der Dinosaurus Rex? – Da müssten die Vertreter unserer Species ja noch von Zwergwüchsigkeit gewesen sein, schloss aus dieser Unglaubwürdigkeit meine Fantasie & beflügelte mich, in einer darauffolgenden Deutschstunde als Schularbeit zum Thema „Unsere Umwelt“  in ein blaues Quartheft zu schreiben:

… & im Laufe der Evolution haben wir an Größe zugenommen. „Wir begannen, aufrecht zu gehen“, pflegte unser Biologe diesen Vorgang zu beschreiben. & wir verstanden es, ein paar Pflanzen, die uns zum Gebrauch & Verzehr nützlich erschienen, auf dem Weg unseres Größenwachstums mitzunehmen & hochzuzüchten, wie wir es mit Gräsern, Kräutern & Bäumen, dem Getreide & dem Gemüse taten. Rhizom & Fruchtstand des Schachtelhalmes erschien uns hingegen unbrauchbar & so ließen wir den Schachtelhalm in seiner ursprünglichen Größe verharren. Zugleich wollten wir die Saurier mit ihrem zähen ungenießbaren Fleisch nicht mit uns mitwachsen lassen & damit wurden sie zu unserem Wachstum verkehrt proportional immer kleiner, sodass wir einen Großteil von ihnen zertrampelten & der bleibende Rest von den Insekten, die wir zur Befruchtung unserer Frucht- & Obstträger mitwachsen ließen, aufgefressen wurde; bloß in unserer allzugern übertreibend verklärenden Erinnerung wuchsen sie im Laufe der Jahrtausende zu jenen Monstern heran, als die sie heute noch unsere Schulbücher bevölkern. Die Mär von der Überdimensionalität der Saurier wuchs plötzlich wieder verkehrt proportional zur Geschichte ihres Verschwindens. Clevere Geschäftsleute boten angeblich fossil versteinerte Skelettmodelle zur Besichtigung an, & der Andrang zu diesen Dinoshows war groß wie die Begierde & Neugier unserer Species nun mal groß ist. Manche Pflanzenarten brachten wir ob unsrer Obhut & Pflege von der Größe einer Flechte zu stattlichem Baumwuchs. Dies erwies sich bloß in den letzten Jahren als unnütz, denn bis auf die obsttragenden Bäume zeigten sich diese als nicht brauchbar, nachdem wir davon abgekommen waren, mit diesen Hölzern unsere Häuser zu bauen & damit auch zu beheizen, denn um die Schadstoffemissionen zu verringern, haben wir auf die Schachtelhalmleichnamsflüssigkeit als Brennstoff zurück gegriffen, & wir versuchten dabei, aus unserer Muttersprache selbst Schadstoffe zu eliminieren, kreiierten in Anlehnung an „Unkraut“ folgend Worte wie „Unholz“ oder „Ungras“ & beriefen uns dabei auf die Gebrüder Grimm & die Gesellschaft für Deutsche Sprache in Lüneburg, ließen dies nebstbei von Bayer in Leverkusen absegnen, ohne dabei das ungute Gefühl zu haben, uns an der Muttersprache zu versündigen. In dieser Terminologie folgend vernachlässigten wir den bis dahin miteinbezogenen Baum, beschnitten die Wälder & erfanden das Wort „Waldsterben“. Da wir sowieso schon immer ein Nahverhältnis zum Sterben & zum Tode gehabt haben, begannen wir auch vom „Bruder“ Baum zu sprechen, als wir ihn so von uns vernachlässigt kränkelnd vor uns sahen. Die Schachtelhalme hatten wir dar ob gänzlich vergessen & wir bemerkten in dieser Nachlässigkeit auch nicht, wie diese auf einmal zu wachsen & sich fortzupflanzen begannen: So sehr waren wir auf unseren „Bruder“ Baum konzentriert. Die „Schwester“ hatten wir dabei auch noch außer Acht gelassen, diese Schachtel, die der Baustein dieses Schafthalms war. Unsere Wissenschaftler waren natürlich die ersten, die sich auf diese Erscheinung von Gefäßkryptogamen stürzten & die bald eine schlüssige Erklärung dafür hatten, dass es da plötzlich eine Pflanze gab, deren Wachstum sich dem nach unserem Dafürhalten alldurchdringenden  Willen entzog. Aber nachdem wir jahrzehntelang Raubbau an den Gräbern der Schachtelhalme getrieben hatten, ihre verflüssigten Leichname durch Verbrennung aus Schornsteinen von Fabriken, Auspuffen von Motoren & Düsen von Flugkörpern in die Atmosphäre unserer Mutter Erde geblasen hatten, wurde damit ein sonderbarer Kreislauf geschlossen: Die bis zu unserem Eingreifen – um nicht zu sagen „unsere Schändung“ – der in tiefen Erdschichten im Flüssigkeitsleichnam gebundenen Schachtelhalmseele wurde geweckt, in die Luft der Erdatmosphäre entlassen & ihr so die Gelegenheit gegeben, sich in ihren alten, ineinander verkeilten Schachteln zu reinkarnieren, um so den zierlichen zart zerbrechlichen Ackerschachtelhalm aus unserer Erinnerung in einen realen stämmig stattlichen Schafthalm wachsen zu lassen“…

Tags darauf vernahm ich durch Mitschüler, dass zwischen meinem Deutschprofessor & meinem Biologieprofessor im Lehrerzimmer eine lebhafte Diskussion stattgefunden hatte, welche sie in der Pausenhalle mitgehört hatten.

Der Warteraum im Airport Heathrow war mir zu dieser Pausenhalle geworden. Über Lautsprecher wurde ich vom Schuldirektor in die Direktion gerufen. Ich erhob mich augenblicklich aus dem Wartestuhl & im selben Moment wandelte sich der spiegelglatte Steinboden zum laufenden Band, ein escalator unter meinen Füssen, der Schulgang wurde zur gangway,  aus der ich durch einen plötzlich einsetzenden Sog in ein Metallungtüm eingesogen wurde.

Nachdem mein Körper durch diese starke Kraft in den Bauch des Flugzeugs geschmissen wurde, schwebte er nach dem harten Aufprall darin wie in einem Vakuum schwerelos umher. Ich versuchte vergebens, meine Füße auf dem Teppichboden zu halten, sie wurden bei jedem Versuch von meinem Rumpf weggerissen, & sofort wieder vor oder hinter meinem Rumpf, dessen Massenschwerpunkt zur Schaltzentrale der Bewegungsabläufe meines Körpers geworden war. –  Die Bewegungsimpulse meines Gehirns bewirkten gar nichts mehr, meine Gliedmaßen orientierten sich allein an den Direktionen des Rumpfzentrums, es war als hätte der Solarplexus die Kontrolle über mein Körperverhalten übernommen, der dieses damit aus dem gewohnten Gleichgewicht brachte. Mein Gehirn konnte nur mehr über die von dieser Stelle aus dirigierten Bewegungen meines Körpers reflektieren ohne jegliche direkten Einfluss darauf ausüben zu können. So ließ es meinen Körper gewähren.

Ich atmete neugierig die im Raum befindliche, scheinbar gegen meine gegenwärtige körperliche Befindlichkeit konditionierte Luft durch meine Nüstern ein – eine kühle vordergründig die Schleimhäute stechende Frische, die scharf die Nase durchzog, ein leichter odeur von Darmgasen, offenbar durch einen Chymus von Polycondensaten hervorgerufen: angedaute Kunststoffe wie vorbereitet in meinem Magen zum Ausstoß durch den Darmschlauch des Reptils. Durch eine Öffnung, die auch mich in den Magen schleuderte, sah ich hintan noch mehrere Körper hereinfallen & daraufhin wie ich selbst schwerelos umher schweben. In dieser Beobachtung erschien in meinem Blick das zugeschminkte Gesicht einer Stewardess, einer Flugbegleiterin, die mich angrinste, dabei ihre rotglänzenden Pralllippen kurz die Wangen hochzog. Selber hörte ich nichts dabei, meine Ohren empfangen bloß ein Muschelrauschen; dabei verzogen, wölbten, öffneten & schlossen sich diese Rotlippen in wiederkehrenden Intervallen. Ich nahm das Gesicht nicht mehr wahr. – Diese Plastikpuppe musste das Reptil kurz zuvor verschlungen & zum Verstummen gebracht haben.

Nun schwebte die Puppe an mir vorbei.

Sie war nicht mehr angedaut, aber ihr marineblauer Polyesterdress leicht zersetzt, ließ blanke Hautfarbe durch blinzeln. Geblendet durch diese Wahrnehmung wurde mein Körper plötzlich durch nachdringende Impressionen weitergeschoben: Offenbar hatte das Reptil ein Nest von Menschen ausgehoben. Mein Körper wich seitwärts aus & fiel in eine Sitzschale, die ihn & damit mich fasste ein Enzym ein Substrat fasst. – Hatte ich gar Nährwert zu bieten?  -  Wohl leichenblass in diesem Gedanken fasste ich den Wunsch nach einem Spiegel: denn damit hätte ich über Reflektion im verunsicherten Gehirn mich eines des augenblicklichen Schreckensausdrucks im eigenen Gesicht rückversichern können.

Aber ich spürte, ein leichtweiß gefärbter Hauch streifte mein blasses Gesicht. Augenblicklich Blut zurück aus meinen Gliedmaßen in den Rumpf meines Körpers schoss, das mein Herz erfüllte & wie einen Ballon aufblies.

Über meinem kreideweißen Gesicht begannen plötzlich Lämpchen aufzublinken. Ich neigte mich zur Seite & blickte in das aschfahle Gesicht  eines Mannes in der Sitzschale neben mir – mit rotem Licht beblinkt.

Ich sah mich daraufhin um: Alle Körper in Sitzschalen gefasst. Keiner schwebte. -  Als ich mich kurz erheben wollte, bemerkte ich, dass irgendjemand den Sicherheitsgurt meiner Sitzschale um meine Hüften geschnallt hatte. Von hinten her tappte eine Hand auf meine Schulter, ich wandte mich dabei & blickte in das zugeschminkte Gesicht von vorhin…  Ob ich mich Ok  fühle, fragte mich die Stewardess, die Flugbegleiterin, mit einem freundlichen Lächeln. Als ich daraufhin bejahte, stöckelte sie wieder nach hinten – oder vorne? -, schnallte sich in eine Sitzschale & im selben Moment hob sich mein Mageninhalt gegen mein Zwechfell.

„Abgehoben“, meinte der Mann neben mir mit einem Lächeln & ein bisschen mehr Farbe im Gesicht als zuvor irgendjemand im Passagierraum gehabt hatte.

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